In Ata Bejit

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Wir wollten nach Ata Bejit, der kirgisischen Gedenkstätte für die Opfer einer stalinistischen „Säuberungsaktion“ 1937, bei der 138 kirgisische Intellektuelle ermordet und hier südlich von Bishkek verscharrt worden waren, unter ihnen auch der Vater von Tschingis Aitmatov. Wir wussten auch, dass dort das Grab des Schriftstellers selbst ist, da dieser den Wunsch gehabt hatte, in der Nähe seines Vaters beerdigt zu werden, den er mit neun Jahren verloren hatte.

Vor dem Hotel standen zwei Autos, in denen Fahrer offenbar auf Fahrgäste warteten: ein „richtiges“ Taxi und ein älteres Auto, dessen Fahrer sofort mit der Frage „Taxi?“ auf uns zukam. Wir wendeten uns dem „echten“ Taxi zu, das aber offenbar reserviert war. Also ließen wir uns darauf ein, mit dem anderen Auto zu fahren. Wir nannten unser Ziel und fragten nach dem Preis, der Fahrer, er hieß Aman, wie wir später erfuhren, nannte 1.500 SOM, das war in Ordnung. An der ersten Tankstelle wollte Aman das Geld zum Tanken, dieses Spiel kannten wir schon von Tölön. Wir gaben ihm die gesamte Summe.

Subbotnik

Auf der Strecke nach Ata Bejit wurde überall gearbeitet, Menschen strichen die Straßenbäume frisch mit weißer Farbe an, das hohe Gras wurde gemäht, Müll gesammelt. Alles wurde offenbar für die bevorstehenden Nomaden-Spiele vorbereitet, die im September stattfinden werden. Aman erklärte uns, dass aus diesem Anlass die Präsidenten der Nachbarländer nach Ata Bejit kommen würden.

Aman war neugierig und gesprächig, wir erzählten, was wir in Kirgistan bisher gesehen hatten, er pries die schöne Natur und das Land. Er fragte auch, ob wir nach dem Besuch in Ata Bejit wieder nach Bishkek zurück wollten. Am Ziel angekommen stieg er mit uns aus und erklärte, uns alles zeigen zu wollen.

Auch in der Gedenkstätte waren überall Renovierungsarbeiten im Gange, Soldaten pflegten die Blumenrabatten und beseitigten den Rost an den Metallkonstruktionen.

Ohne Aman hätten wir die Anlage der Gedenkstätte wohl gar nicht verstanden, denn diese bestand eigentlich aus vier oder genau genommen fünf verschiedenen Teilen. Zunächst zeigte uns Aman die Gedenkstätte für die Opfer des Aufstandes gegen die russische Kolonialmacht 1916. Nach der Niederschlagung dieses Aufstandes hatte der russische Zar versucht, die kirgisische Bevölkerung auszurotten, dem viel fast die Hälfte der Kirgisen zum Opfer. Erst die Oktoberrevolution machte dem Genozid ein Ende, was auch erklärt, warum es noch immer Monumente für Lenin und in jedem Ort eine Leninstraße gibt, während etwa die Karl-Marx-Straßen alle umbenannt sind.

Die zweite Gedenkstätte ist die, von der wir schon wussten: das Massengrab für die Opfer der Erschießungsaktion, der die jungen Intellektuellen auf Befehl Stalins 1937 zum Opfer fielen. 1991 hatte man die Stelle nach einem Augenzeugenbericht entdeckt und die Gedenkstätte angelegt.

Ganz in der Nähe dieses Grabes befindet sich die letzte Ruhestätte von Tschingis Aitmatov sowie ein kleiner „Tempel“ in dem aus Bronze ein Stapel seiner Bücher liegt, das oberste ist aufgeschlagen und man kann – ebenfalls in Bronze – die Handschrift des Schriftstellers bewundern.

Hier wies uns Aman darauf hin, dass die Gräber und Monumente oben vom Dachkreuz der Jurten abgeschlossen wurden, so ist jedes Grab letztlich eine Jurte.

Etwas unterhalb befindet sich ein Gräberfeld, auf dem die Opfer der Revolution von 2010 beerdigt sind. Bei gewaltsamen Protesten ließ der damalige Präsident auf die Demonstranten schießen, die Toten sind hier beerdigt.

Am Ende führte uns Aman noch eine abgelegene Treppe hinauf, die wir ohne ihn nicht entdeckt hätten. Sie führte zu einem überdachten Glasbau, in dessen Innern man von oben in ein Kellergewölbe sehen konnte: hier waren die Leichen der Opfer Stalins damals hineingeworfen worden.

Auf der Rückfahrt zeigte uns Aman noch einen weiteren Ort des Gedenkens: Auf einem Friedhof war unter einem Kuppelbau das Grab von Kanay Baytik, einem großen kirgiseischen Kriegshelden des 19. Jahrhunderts.

Am Ende fragte er uns, wann am nächsten Morgen unser Flugzeug starten würde und bot sich an, uns um vier Uhr morgens vom Hotel abzuholen und uns zum Flugplatz zu bringen. Wir nahmen dankend an.

Wandteppiche und Sozialistischer Realismus

Am Nachmittag besuchten wir dann das frisch geputzte Kunstmuseum. Im Erdgeschoss gab es eine Sonderausstellung aus Anlass des 90. Geburtstags Tschingis Aitmatovs und der bevorstehenden Nomaden-Spiele, der Titel war „Melodie der Steppe“. Zu sehen waren Wandteppiche – oder besser gesagt, gewebte und geknüpfte Bilder – von Shakyp Kutybeka. Das stimmte uns auf den ersten Teil der eigentlichen Ausstellung ein, die ebenfalls Wandteppiche zeigte, offenbar eine wesentliche kirgisische Kunsttradition.

Im Weiteren gab es dann viele Säle mit sozialistischem Realismus, in denen man vor allem die ideologische Funktionalisierung der Kunst bei dem Versuch der Umerziehung der Nomaden in Richtung Kollektivierung und Sesshafigkeit und die Heroisierung des Versuchs der Industrialisierung Kirgistans während der Zeit des Sozialismus studieren konnte. Dazwischen immer wieder experimentelle, realistische, expressionistische und fast abstrakte Darstellungen der Schönheit der kirgisischen Landschaft. Am Ende dann die Kunst der letzten Jahrzehnte, in denen sich die Künstler fast gänzlich sowohl von der gesellschaftlichen Situation als auch von der Landschaft ihrer Heimat abzuwenden versuchten – hin zu einer abstrakten Darstellung von Chaos und Sinnsuche.

Wir schlenderten erneut durch die Straßen Bishkeks, saßen lange in Cafés und erinnerten uns an die Erlebnisse dieser Reise. Morgen früh würde uns Aman pünktlich vom Hotel abholen und zum Flughafen bringen, wir würden einchecken, nach Moskau fliegen, umsteigen, nach Hamburg weiterreisen, den nächsten Zug nach Münster nehmen, am Ende ein Taxi, mit Taxometer und Schild und ohne Riss in der Frontscheibe. Alles würde reibungslos und ordentlich funktionieren.

Nachträge

PS: Auf der Fahrt zum Flughafen erzählte Aman uns noch, dass er für eine Kinderzeitschrift arbeiten würde und dass er gern einen Artikel über unseren gemeinsamen Besuch in Ata-Bejit schreiben würde.

PPS: Nach vier Landungen, zwei in Moskau, eine in Bishkek und eine in Hamburg, kann ich verallgemeinernd berichten, dass in Flugzeugen der russischen Fluggesellschaft Aeroflot noch immer erleichtert geklatscht wird, wenn dem Piloten eine sichere weiche Landung gelungen ist.

PPPS: Wir kamen mit 10 min Verspätung in Münster an. Was bei einer Reisedauer von rund 16 Stunden in Ordnung ist, finde ich.


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