Rassismus in Rassismusfreier Sprache

Sind wir nicht mehr rassistisch, sobald wir aus unserer Sprache alle rassistischen Wörter getilgt und durch Attribute ersetzt haben, die unsere besondere Sensibilität für Unterdrückung oder eigene Überhebung verdeutlichen sollen, sobald wir zudem alle kulturellen Praktiken, die von Rassismusforschern als rassistisch geprägt identifiziert werden, abgelegt, sobald wir aus allen Büchern und Kunstwerken die Spuren rassistischer Traditionen getilgt haben? Verfolgt man die oft hitzigen Debatten über die Verwendung bestimmter Begriffe, über die Überarbeitung von Kindebüchern oder über die Vermeidung von stereotypischen Kostümen und Verkleidungen beim Karnevall und beim Sternensingen, dann kann man den Eindruck gewinnen, es käme vor allem darauf an, die Spuren des Rassismus aus unserer Gegenwart zu tilgen und schon wäre das Problem des Rassismus beseitigt. Aber ist das wirklich der Fall?

Wie entstand überhaupt der Rassismus, insbesondere gegenüber den Menschen aus Afrika und den nativen Einwohnern der Amerikas? Als die europäischen Seefahrer vor Jahrhunderten diese Kontinente vor Jahrhunderten entdeckten und feststellten, dass dort Menschen lebten, berichteten sie in ihrer Heimat nicht schlicht über die Andersartigkeit und Fremdheit der dortigen Kulturen – vielmehr wurden diese sofort als primitiv, roh und wild hingestellt. Die Europäer sahen sich auf einer höheren Kulturstufe und sie waren der Meinung, dass ganz selbstverständlich die Bewohner anderer Kontinente, die ihrer Meinung nach eine minderwertigere Art zu leben hatten, von den Europäern zu lernen hätten, dass die Europäer zu Lehrern und Herrschern über die Menschen der anderen Kontinente bestimmt seien. Ob sie die Meinung vertraten, dass die nativen Einwohner Afrikas und Amerikas auch biologisch auf einer niedrigeren Stufe stünden oder ob sie sie eher als kulturell rückständig beurteilten, kann dahingestellt bleiben, der Rassismus ist vor allem die Vorstellung der eigenen kulturellen, technischen, ökonomischen und politischen Überlegenheit, die Überzeugung, hierin einen Vorsprung zu haben, gepaart mit der Meinung, die anderen müssten, wenn sie denn könnten, unter Anleitung der Europäer ihren Rückstand aufholen, um am Glück und Wohlstand, den diese bereits erreicht hatten, teilhaben zu können. Ablehnung und Widerstand wurden als mangelnde Fähigkeit gedeutet, den offensichtlichen Segen, den Europa über die Welt bringen könnte, zu verstehen.

Die Fassung dieser europäischen Überheblichkeit in eine rassistische Sprache und in kulturelle Symbole, die sich an Äußerlichkeiten festmachen können, war zunächst nur ein Vehikel, ein Hilfsmittel der Kommunikation des eigentlichen kulturellen Imperialismus Europas. Es machte die Sache einfacher, kulturelle Fremdheit, die man als Primitivität denunzieren wollte, mit habituellen Merkmalen und Äußerlichkeiten zu bündeln.

Nun kann man sagen, dass der Rassismus der Äußerlichkeiten inzwischen seine Aufgabe erfüllt hat, der kulturelle Imperialismus des Westens ist sogar dabei, seine Herkunftsregion hinter sich zu lassen. Kaum jemand wird heute noch eine Person als primitiv oder zurückgeblieben ansehen, weil ihre Statur, ihre Hautfarbe oder ihr Gesichtsschnitt nicht dem europäischen Durchschnitt entspricht. Schon seit langem ist akzeptiert, dass auch eine in Afrika geborene Person in der Lage sein kann, eine große Philosophin, eine Wissenschaftlerin, Politikerin, Künstlerin oder Unternehmerin im Sinne der europäischen Tradition zu werden – wenn sie nur unter dem Einfluss dieser vorgeblich fortgeschrittenen Kultur aufgewachsen ist. Das Kino zeigt es uns jeden Tag, amerikanische Blockbuster wie europäische Kinderfilme zeigen Präsidenten oder junge Heldinnen jeglicher Hautfarbe und Gesichtsform als moderne Helden – wenn sie denn in den USA oder in Europa aufgewachsen sind, können sie auch die ganze Welt oder wenigstens ein Stück Urwald-Wildnis retten.

Dieser Rassismus kann sich sogar umso besser verbreiten, desto mehr Klischees und Stereotype aus der Sprache und den Büchern verschwinden – denn dadurch wird wunderbar die Herkunft der europäischen Anmaßung verschleiert. Die Überzeugung von der eigenen Überlegenheit bleibt unbefragt.

Angesichts der globalen Gefahren, die inzwischen von genau dieser Kultur ausgehen, die sich da über den Globus verbreitet hat, angesichts auch der zivilisatorischen Katastrophen, die diese Kultur zugelassen hat, wäre aber endlich die Frage zu stellen, ob wir nicht kulturell viel bescheidener werden müssten, ob wir nicht endlich wirklich und konsequent anerkennen müssen, dass sich unsere westliche Zivilisation zwar aus Kulturformen entwickelt hat, die denen der nativen Bevölkerungen Afrikas und Amerikas in einigen gleichen, und dass sie offenbar die ökonomische, politische und militärische Macht hatte, die anderen zu unterwerfen und weitgehend zu verdrängen, dass sie aber keineswegs als klarer Fortschritt zu einer rundum besseren Welt zu deuten ist. Zu einer solchen Besinnung wäre es womöglich hilfreich, nicht alle äußeren Spuren dieser Unterwerfungsgeschichte zu tilgen, sondern sie stehen zu lassen als Zeichen und Mal der Schande und als Steine des Anstoßes, über deren Folgen wir nachzudenken haben.

Eine solche Besinnung fällt niemandem leicht, zu tief sind die Fortschritte unserer Kultur als angebliche Segnungen im Bewusstsein eines jeden verankert. Wer wollte nicht die europäischen Gesundheitssysteme, das Bildungswesen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau als wichtige Errungenschaften und zugleich erfreuliche Vorteile gegenüber anderen Gesellschaften wie auch gegenüber früheren Jahrhunderten ansehen? Eine Besinnung müsste mit der Frage beginnen, wieviel Klischee und stereotype Vorstellungen über fremde Kulturen eigentlich in dieser Bewertung stecken. Was weiß ich wirklich über die Gesundheit und das Zusammenleben der Menschen in einer nativen Gesellschaft irgendwo in Afrika vor dem Eintreffen der Europäer? Nähren sich meine Überzeugungen nicht gerade aus den rassistischen Beschreibungen der Eroberer, fortgeschrieben in westlichen Ethnographien? Eine weitere Frage wäre, mit welchen Verlusten und Problemen wir unseren unverzichtbaren Fortschritt eigentlich erkaufen, nicht nur im Großen der Umweltprobleme, des Klimawandels und der Kriege, auch im Alltäglichen der Entfremdung und Einsamkeit.

Ergebnis dieser Besinnung kann sein, dass nichts mehr übrig ist von der Überzeugung, dass wir irgend etwas besser verstehen und können in unserer westlichen Fortschrittskultur als die Menschen anderer Kulturen. Wir sind nur anders, und wir könnten, auch wenn das sehr schwer ist, die Andersheit der Anderen als Inspiration nehmen. Das ist leicht gesagt, und viele meinen vielleicht auch schon, das zu praktizieren. Ich selbst, der ich diese Zeilen schreibe, meine, dass ich davon noch weit entfernt bin. Mein Blick auf das Andere ist durch meine jahrzehntelange Einübung der eigenen Kultur geprägt, und ich kann kaum anders, als das Andere doch auf das Eigene abzubilden, es zu integrieren, es vielleicht zu imitieren. Aber dabei weiß ich nie, ob ich das Andere überhaupt verstanden oder ob ich es nicht in das Eigene umgedeutet und damit doch nur wieder angeeignet habe, in den großen Schmelztiegel der westlichen Kultur geworfen und damit letztlich vernichtet habe.

Das Andere als Anderes stehen zu lassen und zu akzeptieren, dass man es nicht einfach erlernen kann, dass es ein vielleicht für immer unverstandendener anderer Weg zum menschlichen Glück ist, der nicht besser und nicht schlechter ist als mein eigener, auch wenn ich ihn ablehne oder mich nach ihm sehne – das wäre vielleicht der richtige Umgang mit dem Fremden. Es gerade nicht aneignen wollen, es auf diese Weise vor mir schützen und für eine bessere gemeinsame Zukunft bewahren – das könnte ein Weg sein, den kulturellen Imperialismus und Rassismus wirklich zu überwinden. Die Spuren unserer dann wirklich vergangenen Überheblichkeit sichtbar zu lassen, könnte dabei helfen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in der Schweizerischen Kirchenzeitung vom 24. Oktober 2024.


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