Lieder am Morgen und ein Junge auf dem Esel

Vorheriger Tag: Zwei Franzosen und zwei Schwestern

In der Nacht weckte uns ein heftiger Regenschauer und gegen 6:00 Uhr begann der Regen wieder, auf das Zelt zu trommeln. Zum Frühstück kauerten wir uns mit einer französischen Wandergruppe, die von Mascha geführt wurde, einer Russin, die in Bishkek lebte, zusammen in das Wohnzelt unserer Gastgeber und warteten auf das Ende des Regens. Es stellte sich heraus, dass Reta, die Hausherrin, heute Geburtstag hatte, die Franzosen sangen Happy Birthday auf Französisch, und baten uns, es auf Deutsch zu singen, wir sangen „Zum Geburtstag“.

Пусть всегда будет солнце!

Dann kam die Sonne und ich zitierte auf Russisch die erste Zeile eines Kinderliedes, Mascha ergänzte die restlichen Zeilen des Refrains, dann sang Reta die erste Strophe des Liedes auf russisch und zusammen sangen wir den Refrain. Die Franzosen staunten, wie wir über so viele Kulturen das gleiche Lied kennen konnten, ich erwiderte, dass wir ja auch alle z.B. Ed Sheeran kennen würden.

Ein drittes Bild

Die Franzosen und Mascha wanderten los, wir warteten, dass Ruslan und Nursultan die Pferde vorbereiteten. Nurajim zeigte auf ihren Bruder und verriet, dass auch er gern ein Bild von mir hätte. Reta lobte die Bilder, die ich gestern den Mädchen geschenkt hatte. Gülsada brachte einen Bleistift und ein Schreibheft. Die ganze Familie sah zu, wie ich den Blick aus der Tür zeichnete: die eingepferchten Schafe, die Berge, die Stapel aus getrocknetem Schafsdung. Dann das Innere des Zeltes: Eimer, Schaufel, Regale und Schuhe. Gülsada setzte sich an das niedrige Tischchen, um mit dem Bleistift ins Heft zu malen. Wir verabschiedeten uns mit Poka! was im Kirgisischen und im Russischen Tschüß! heißt.

Kurz vorm Pass setzte der Regen wieder ein, ein eiskalter Wind ließ die Fingerspitzen fast erfrieren. Zum Glück hatten wir schon im Tal alle Jacken angezogen, die übereinander passten. Wir trieben die Pferde über den Pass und die andere Seite hinunter. Im Tal riss der Himmel schnell auf, wir erreichten schon gegen 14:00 Uhr unser heutiges Ziel, ein kleines Häuschen oberhalb eines Flusstals, auf dessen gegenüberliegender Seite sich ein Bergfluss in die Tiefe schlängelte.

Der Knabe auf dem Esel

Nachmittags gab es noch einen kurzen Schauer, dann riss der Himmel erneut auf und die tiefstehende Sonne schien genau das Tal entlang. Wir standen lange und sahen dem Flusslauf hinterher, der in großen Bögen dem Tal folgte. Breite Wiesen auf denen Pferde grasten, direkt am Ufer zunächst Stauden und Sträucher, weiter entfernt Gehölze in Gruppen, die zu groß waren, um Büsche genannt zu werden, aber zu klein, um Bäume zu sein. Und doch bildeten sie entlang des Ufers einen erst lockeren, dann undurchdringlichen Wald.

Hinter uns tauchte der fünfjährige Asired mit seinem Esel auf. Er war uns schon bei dem Häuschen begegnet und war der Sohn der Frau, die dort für uns kochte, die Hütte wurde scheinbar von einem einzelnen Mann bewohnt, der nicht für Gäste kochen konnte. Asired versuchte, auf seinen Esel zu steigen, es gelang erst nach mehreren waghalsigen Versuchen, dann versuchte er, den Esel anzutreiben, indem er ihm die Hacken in die Seiten schlug. Allerdings waren seine Beine zu kurz, um den Bauch des Tiers zu erreichen, er stieß nur gegen den Sattel. Das Tier ging ein paar Schritte und blieb dann wieder stehen. Wir fragten uns, wie die beiden überhaupt bis hier her gekommen waren.

Asired stieg wieder ab, zog an dem Esel und wollte wieder aufsteigen. Allerdings verrutschte dabei der Sattel, sodass es wieder und wieder misslang. Ich ging zu den beiden hinüber und fragte den Jungen, ob ich helfen solle. Da er natürlich noch kein Russisch verstand, machte ich eine passende Geste. Er nickte und ich hob ihn auf den Eselrücken. Wieder versuchte Asired, den Esel in Bewegung zu bringen. Ich gab dem Tier einen Klaps auf den Hintern und es trabte los.

Wir gingen weiter zu dem Wald am Flussufer. Als wir zurück kamen, kam uns Asired schon entgegen, den Esel hinter sich her zerrend. Der Strick, der als Zügel dienen sollte, hatte sich auf der einen Seite gelöst. Ich machte einen Knoten, setzte Asired wieder in den Sattel und wir kehrten gemeinsam zur Hütte zurück.

Nach dem Abendessen ritten Asired und seine Mutter davon. Der Junge, der die ganze Zeit kein Wort mit uns gesprochen hatte, winkte uns so aufgeregt zum Abschied zu, dass er fast von seinem Esel gefallen wäre.

Nächster Tag: Im Rauschen


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