Der Sinn der geteilten Gewalt

Die politischen Debatten während der letzten zweieinhalb Jahre, in denen die Öffentlichkeit vor allem mit der Covid-19-Pandemie beschäftigt war, haben bezüglich des Zustandes der Gesellschaft ein großes Missverständnis darüber aufgezeigt, auf welchem Fundament die Organisation dieser Öffentlichkeit steht. Das betrifft sowohl die Struktur der politischen Organisationen, die gern mit dem Begriff der Gewaltenteilung beschrieben wird, als auch die Rolle der Medien und anderer Gruppen, die in der Öffentlichkeit um Aufmerksamkeit und um Einfluss bei der Gestaltung politischer Entscheidungsprozesse ringen.

Zuletzt hat man das bei der Diskussion um den Sachverständigenrat gesehen, der im Auftrag von Bundestag und Bundesregierung bis Ende Juni die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beurteilen sollte und bei dem es offenbar zu Differenzen über die Erfüllbarkeit dieser Aufgabe gekommen war. Ein Umstand, der vor allem von WELT kritisch aufgegriffen wurde, was wiederum die Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft – was hier schwer zu trennen ist – vor allem auf Twitter zu aufgebrachten und abfälligen Reaktionen veranlasst hat.

Hier muss einiges aufgeklärt werden. Beginnen wir bei der sogenannten Gewaltenteilung zwischen den staatlichen Institutionen.

Gewaltenteilung ist keine Arbeitsteilung

Offenbar hat sich über die Jahrhunderte, in denen parlamentarische Demokratien inzwischen bestehen, ein großes Missverständnis über den Grund der Gewaltenteilung eingeschlichen. Heute meint man zu glauben, die Gewaltenteilung sei schlicht so eine Art Arbeitsteilung: Die Legislative soll sich Gesetze ausdenken, die Exekutive setzt diese Gesetze dann um, und die Judikative bestraft die, die versuchen, die Gesetze zu umgehen.

In allen drei Bereichen, so scheint man zu glauben, arbeiten ehrenwerte, uneigennützige Menschen, die um die Begrenztheit ihrer eigenen Aufgaben wissen, die wissen, dass sie sich nur in ihrem eigenen Bereich auskennen, und die deshalb froh sind, dass sich andere jeweils um andere Aufgabenbereiche kümmern. Dass es auch Fälle gibt, in denen die Akteure nicht ganz so uneigennützig handeln, dass es auch Fälle gibt, in denen die einen meinen, sich die Kompetenzen von anderen anmaßen zu können, wird als Störung angesehen, als böse Abweichung vom Ideal der politischen Arbeitsteilung, als verwerfliche Ausnahme. Und wenn es keine Ausnahme ist, dann spricht das gegen die Moral der politischen Klasse oder gar des ganzen Systems.

Als die großen Denker wie zuerst John Locke in England und dann, Mitte des 18. Jahrhunderts, Montesquieu in Frankreich die Gewaltenteilung konzipierten, hatten sie aber eine ganz andere Vorstellung. Es ging nicht um freundliche Kooperation von politischen spezialisierten Einrichtungen. Diesen politischen Ideengebern war das selbstverständlich, was heute als moralisch verwerflich und korrupt, als Fehler der Politiker oder anderer Einflussgruppen hingestellt wird: Der Mensch ist eigennützig.

Jeder ist davon überzeugt, dass die Gesellschaft sich genau nach seinem Plan entwickeln soll, er will Einfluss und Macht, und zwar so viel wie möglich, einerseits aus purer Lust an der Macht und aus Freude an den Konsequenzen des Einflusses auf den Lauf der Dinge, andererseits wohl auch, weil eben jeder meint, zu wissen, was für alle das Beste sei.

Die Idee der Gewaltenteilung ist es, schlicht und einfach, diesen Machtwillen aufzuteilen und gegeneinander zu richten, sodass es immer mächtige Gegenspieler gibt, die die Macht der anderen begrenzen – denn dass grenzenlose Macht auch des selbstlosesten und gutwilligsten Menschen am Ende nicht gut für die Leute ist, die dieser Macht gehorchen müssen, war die Lehre aus den leidvollen Erfahrungen der Monarchien.

Der klägliche Rest der gegenseitigen Kontrolle

Von der Idee dieser Gewaltenteilung ist im Verfassungsalltag moderner Demokratien nicht sehr viel übrig geblieben, an ihre Stelle ist ein Kooperationsmodell getreten, was letztlich dazu führt, dass zumindest zwischen Parlament und Regierung kaum noch eine wechselseitige Kontrolle und Begrenzung stattfindet, und auch die Judikative wird dieser Funktion nur eingeschränkt gerecht.

Innerhalb der politischen Klasse wächst ein Netz wechselseitiger Verbindlichkeiten und Verpflichtungen Die Tatsache, dass eine Person, die als Parlamentarier in das System einrückt, einen Posten in der Exekutive oder gar die rote Robe eines höchsten Richters anstreben kann, macht nachsichtig gegenüber den anderen Gewalten. Das ist keine menschliche Schwäche, es ist eine Konsequenz der durchaus verständlichen, sogar erfreulichen Eigenschaften der menschlichen Natur. Wenn es keine Menschen mit Durchsetzungswillen und dem Streben nach politischer Gestaltungsmacht gäbe, dann hätte die moderne, komplexe Gesellschaft niemanden, der sich der verzwickten politischen Probleme stellen würde, die täglich neu entstehen.

Selbstverständlich gehört dazu auch Kooperationsbereitschaft – die Fähigkeit, auch quer durch die geteilten Gewalten Allianzen zu schmieden um in diesen Einfluss und Macht zu gewinnen.

Dass dies so werden könnte, ist jenen, die sich mit dem Funktionieren der repräsentativen Demokratie befassen, auch schon länger klar. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts soll deshalb Edmund Burke eine vierte Gewalt ins Spiel gebracht haben: die Presse. Diese holt das politische Spiel in den Institutionen an die Öffentlichkeit, sie ist skeptisch gegen jeden guten Schein, sie geht stets von Machtstreben und heimlichen Absprachen aus, wo es nach Konsens und Sachzwang aussieht.

Natürlich sitzen auch in der vierten Gewalt, in Presse, Rundfunk und Fernsehen, nicht plötzlich die edlen, uneigennützigen Idealisten. Wie die vierte Gewalt von der Grundannahme ausgeht, dass in der Politik nicht vorrangig kooperativer Altruismus herrscht, so darf das Publikum getrost davon ausgehen, dass in den Medienhäusern Leute sitzen, denen es auch um Einfluss, um Gestaltungsmacht, am Ende gar ums Geld geht.

Der Schreiber dieser Zeilen tippt selbstverständlich mit dem guten Gewissen des Aufklärers Wort für Wort dieses Textes in seinen Computer – und doch denkt er auch daran, dass Leute seinen Text lesen und die Welt dann in seinem Sinne ein bisschen anders sehen als zuvor, das dient seiner Befriedigung, und am Ende denkt er auch ans Honorar.

Der Zweifel muss bleiben

Die entscheidende Frage ist, was das Publikum, was die Leser und Hörer von ihren Journalisten erwarten und was sie von der vierten Gewalt geliefert bekommen wollen. In der Konsensgesellschaft, in der man glauben möchte, dass alle politischen Akteure vom Kanzler über den Gesundheitsminister und die Ausschussvorsitzende im Bundestag bis zum Bundesverfassungsrichter, von der Staatssekretärin über die Pressesprecherin bis zum Hinterbänkler alle Tag und Nacht für die gute Sache kämpfen, wünscht man sich vielleicht von den Medien beschauliche und aufmunternde Berichte über die Arbeit dieser fleißigen Frauen und Männer.

Gerade in Krisenzeiten, wenn die Pandemie oder der Krieg in der Nachbarschaft tobt, möchte man womöglich aus den Zeitungen und Rundfunkreportagen vor allem erfahren, dass diese Leute aufopfernd ihr Bestes geben und auf keinen Fall Fehler verschweigen würden, dass sie ihre eigenen Ansichten revidieren, wenn sie falsch sind, dass sie sich keineswegs selbst überschätzen, und dass sie niemals einen klugen Widerspruch beiseite wischen würden. Man wünscht sich Einigkeit und guten Willen bei allen, wenn die Gefahren groß sind.

Einige Akteure der vierten Gewalt, die auch von diesem guten Wunsch beseelt sind, bedienen gern die Nachfrage nach solchen guten Geschichten, die teilweise ja sogar wahr sein mögen. Aber es gibt eben auch immer die Skepsis, den Zweifel und die Vermutung, dass sich einige diesen Wunsch nach der großen Einstimmigkeit auch zunutze machen könnten für ihre ganz eigenen Zwecke. Und in der Überzeugung, dass es für solche guten Geschichten auch entsprechend dankbare Abnehmer geben sollte, werden sich die Medien immer auf die Suche nach diesen Geschichten machen.

In der modernen Gesellschaft kämpfen viele um Einfluss, Aufmerksamkeit und Macht. Zu den politischen Gewalten und der vierten Gewalt der Presse sind weitere hinzugekommen: Unternehmensvertreter, Lobbyisten, Intellektuelle und Wissenschaftler. Ihnen ist es bisher in unterschiedlichem Maße gelungen, das vorteilhafte Image der selbstlosen Weisen, die weit entfernt sind von den menschlichen Schwächen des eigennützigen Strebens nach Macht, zu erhalten.

Die vierte Gewalt, die davon lebt, daran zu zweifeln und dem guten Schein gegenüber skeptisch zu bleiben, wird sich gerade diesen Leuten zuwenden. Wer das verächtlich macht, zeigt, wie berechtigt Skepsis und Zweifel immer waren und sind.

Zuerst veröffentlicht am 18.05.2022 auf welt.de.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.