Wer meint, die gegenwärtige akademische Philosophie würde sich mit weltfremden, praktisch und politisch bedeutungslosen abstrakten Problemen befassen, der sollte einen Blick in die 2021 erschienene Dissertation von Martin Welsch werfen. Sie trägt einen Titel, der auf den ersten Blick unverdächtig klingen mag: Anfangsgründe der Volkssouveränität. Immanuel Kants ‚Staatsrecht‘ in der ‚Metaphysik der Sitten‘ Aber schon, wenn man die Einleitung zu lesen beginnt, wird schnell klar: Mit der Volkssouveränität geht es hier um das „Strukturproblem der modernen repräsentativen Demokratie“.
Was Welsch antreibt, ist „der Gemeinplatz, dass sich die repräsentative Demokratie in der Krise befindet, Politikverdrossenheit und Massenproteste werden als Zeichen dafür gewertet.“ Die Vermutung, dass das System früher einmal seinen demokratischen Zweck erfüllt habe, teilt Welsch allerdings nicht, vielmehr sei das Strukturproblem schon in der ersten Verfassung zu Beginn des „repräsentativen Zeitalters“, der der französischen Republik vom Ende des 18. Jahrhunderts, vorhanden – und dieses Problem haben alle Verfassungen vom französischen Vorbild bis zum heutigen Tag übernommen.
Kant, so ist Welschs These, hat das Problem durchaus gesehen und in seiner Metaphysik der Sitten auch dargestellt, allerdings auf eine Weise, die der Leser leicht missverstehen kann und die ihn über das wahre Problem sogar hinwegzutäuschen vermag.
Worin besteht dieses Problem? Repräsentative Demokratie bedeutet, dass das Volk in Wahlen Repräsentanten autorisiert, in ihrem Namen politisch zu handeln. Diese Autorisierung ist die Ausübung der Souveränität des Volkes. Ist dies aber einmal geschehen, können und sollen die Bürger nicht weiter politisch tätig werden, denn wenn sie sich dabei gegen ihre eigenen Repräsentanten wenden würden, dann würden sie sich sozusagen gegen sich selbst wenden.
Welsch schreibt: „Demokratien der Gegenwart setzen ihre Staatsbürger somit einer irrationalen, da nicht zu erfüllenden Doppelverpflichtung aus: Einerseits sollen die Staatsbürger Volkssouveränität ausüben, andererseits aber genau das auch unterlassen. Dadurch destabilisieren sich moderne Demokratien selbst.“ Das Prinzip der Volkssouveränität ist mit dem modernen Prinzip der Repräsentation unvereinbar.
Mit der Wahl gibt das Volk und jeder einzelne Bürger seine politische Freiheit an die Repräsentanten ab. Wie wird das gerechtfertigt? Indem die Freiheiten des Menschen gegeneinander aufgerechnet werden. Im Gegenzug zur politischen Freiheit erhält der Bürger Handlungsfreiheit und kann seinem ganz persönlichen Streben nach Glück nachgehen. Das repräsentative System wird damit gerechtfertigt, dass es eine „Arbeitsteilung“ ermöglicht. Um ihre Handlungsfreiheit zu maximieren, sollen die Menschen „sich von der Verantwortung entlasten, die Kompetenz öffentlich-rechtlicher Selbstbestimmung selbst ausüben zu müssen.“ Das muss Kant aber als „selbstverschuldete Unmündigkeit“ ablehnen. Wenn man politische Freiheit und Autonomie dem Prinzip der Glücksseligkeit unterordnet, wird dieses nach Kant sogar zu einem Prinzip des Bösen.
Welsch argumentiert dafür, dass Kants Staatsrecht immer missverstanden wird, wenn man meint, der Königsberger Philosoph habe eigentlich das französische repräsentative System als „wahres System der Freiheit“ dargestellt. Vielmehr liest er Kants spätes Werk, das viele als dunkel und widersprüchlich, teilweise als chaotisch und womöglich als Zeichen von Senilität des Autors gedeutet haben, als eine genaue Darstellung der Widersprüchlichkeit, in die sich die modernen repräsentativen Verfassungen begeben, wenn sie als Akt der demokratischen politischen Freiheit vom Bürger verlangen, diese Freiheit gerade abzugeben und damit praktisch ein letztlich undemokratisches System autorisieren, dem sie sich dann unterwerfen müssen.
Was ist der Ausweg aus der verfahrenen Situation, die sich gegenwärtig als Ablehnung der demokratischen Institutionen unübersehbar äußert? Welsch bleibt hier – im Rahmen seiner Dissertation ist das verständlich – vergleichsweise abstrakt, schlägt aber mit Kant einen interessanten Ansatz vor. Zunächst ist es eine freie Entscheidung der Bürger, ob sie von ihrer Freiheit selbst freiheitsverneinend oder freiheitsbejahend Gebrauch machen. Das heißt, ob ich es akzeptiere, dass ich mit der Wahl der Repräsentanten meine politische Freiheit abgebe, oder ob ich trotz dieser Wahl von politischen Freiheiten Gebrauch zu machen gewillt bin, ist meine Entscheidung als Bürger. Das freiheitsverneinende Gebäude der Repräsentation kann untergraben werden, „weil es der freiheitsbejahende Wille selbst ist, der dieses Gebäude aktiv untergräbt.“
Damit dies gelingen kann, ist jedoch kein Umsturz nötig, vielmehr geht es um eine neue Interpretation, eine neue Lesart des Systems, aus der eine neue Praxis folgen kann. Denn „dem Buchstaben nach“ ist das repräsentative System Frankreichs – und damit auch seine modernen Nachfolger – sowohl mit der falschen Republik identisch als auch mit der wahren.
Bürger als Autoren ihrer Freiheit
Was kann das heißen? Es muss nur allgemein akzeptiert werden, dass die Bürger mit der Wahl nicht ihre Freiheit an die Repräsentanten abgegeben haben – und auch nicht an die staatlichen Institutionen und Experten, die mit diesen Repräsentanten zusammenarbeiten. Die Bürger bleiben Autoren ihrer eigenen politischen Freiheit.
Der Autor dieser Zeilen hat in seinem Buch „Die postoptimistische Gesellschaft“ unter dem Stichwort der „Dialektik der politischen Macht“ selbst ein paar Ideen dazu entwickelt. Tatsächlich haben wir in der modernen repräsentativen Verfassung schon alle Werkzeuge, die die Bürger brauchen, um ihre politische Freiheit, wenn es sein muss auch im Widerstreit zu den Repräsentanten, auszuüben: Presse, Demonstrationsrecht, Umfragen und auch die Basis der Parteien. Wir dürfen es nur nicht als Anmaßung, als Störung des Systems ansehen, wenn sich die Bürger gegen ihre Repräsentanten artikulieren, sondern als selbstverständlichen Gebrauch der Souveränität des Volks.
Das repräsentative System der modernen demokratischen Staaten, das vor gut 200 Jahren entstanden ist, ist keine Umsetzung einer idealen Herrschaftsform fürs Volk. Die Dialektik der staatlichen Entwicklung ist keine vom niederen zum Höheren, an deren Ende ein optimales System zur demokratischen Ausübung politischer Macht in der modernen Gesellschaft steht. Das politische System kann in der Praxis zutiefst undemokratisch werden.
Das hat, wie Martin Welsch es zeigt, offenbar schon Kant angesichts der französischen Republik gesehen. In der Darstellung des „Staatsrechts“ in der „Metaphysik der Sitten“ ist die ganze Widersprüchlichkeit dieser politischen Herrschaftsform schon angelegt. Es ist höchste Zeit, dass wir das akzeptieren lernen.