Die Philosophie hat ein Problem. Konfrontiert mit Klimawandel, Flüchtlingskrise oder Corona-Pandemie muss sie erst einmal nach einer Frage suchen, die sie beantworten könnte. Andere Fächer haben es da leichter: Virologie und Epidemiologie suchen nach Maßnahmen, die die Ausbreitung von Krankheitserregern stoppen könnten, Ökonomen erforschen die Folgen solcher Maßnahmen für die Wirtschaft – selbst Historiker wissen, was zu tun ist: Sie halten nach vergleichbaren Situationen in der Geschichte Ausschau, während Literaturwissenschaftler nach literarischen Aufarbeitungen von Pandemien fahnden. Nur die Philosophie scheint nicht so recht zu wissen, wonach sie überhaupt fragen könnte.
Aber vielleicht ist die Sache gar nicht so kompliziert, sie kostet nur etwas Zeit, Zurückhaltung und Besinnung. Zunächst kann die Philosophie fragen, worauf denn all die Fragen, denen sich die anderen Disziplinen so selbstverständlich sofort zuwenden, letztlich hinauslaufen, und warum sie in einem Krisenfall sogleich wissen, was zu tun ist. Es ist, nachdem die Corona-Krise nun fast ein Dreivierteljahr dauert, nachdem die Flüchtlingskrise nun – wie man vorsichtig sagen könnte – fünf Jahre zurückliegt, und nachdem wir uns seit circa drei Jahrzehnten mit der Klimakrise beschäftigen, ganz klar, worum sich alle Disziplinen bemühen und wozu sie alle beitragen wollen: Es geht um Krisenbewältigung.
Aktuell wollen Virologen, Epidemiologinnen und Ökonomen, ja selbst Historikerinnen und Literaturwissenschaftler letztlich einen Beitrag dazu leisten, dass wir die Corona-Krise bewältigen, so schnell und so nachhaltig wie möglich. Was könnte die Philosophie dazu beitragen? Welche philosophische Frage wäre zu stellen, damit die Krise ein bisschen schneller und ein bisschen besser bewältigt wird?
Soll die Philosophie schweigen?
Diese Fragen müssen wir unbeantwortet lassen. Hier soll es darum gehen, was die Philosophie tun kann, wenn sie der Frage begegnet, wie wir die Corona-Krise bewältigen können. Sie stellt drei neue Fragen: Wer ist hier „wir“? Was ist hier das Wesen der „Krise“? Und: Was heißt überhaupt „bewältigen“? Sie stellt diese Fragen nicht konkret geradeheraus, so, wie etwa die Soziologie oder die Politikwissenschaft fragen könnte, wer alles zu diesem „wir“ der Krisenbewältiger gehört und wer nicht und wie durch diese Wir-Bildung die Krise sogleich bewältigt wird.
Die Philosophie stellt, wie man sagt, diese Fragen grundsätzlich, nämlich so, dass Einsichten über unser Selbst- und Weltverständnis überhaupt möglich werden. Die drei Fragen weisen nämlich auf eine Grundfrage zurück: Was ist das für eine Welt, in der „Krisen“ auftreten, woraufhin ein „wir“ sich darauf verständigt, dass alles darauf ankommt, dass die Krise „bewältigt“ werden muss?
Wo alle der Meinung sind, dass die Krise schnell bewältigt werden sollte, muss ein solches Fragen auf Unverständnis stoßen. Denn jeder weiß ja schon, welche Aufgabe er zu lösen hat. Also ist doch wohl klar, was es mit der Krise auf sich hat und was „bewältigen“ hier heißt. Es scheint, als ob ein philosophisches Fragen und Suchen eher dabei stört, das gemeinsame Ziel zu erreichen. Vielleicht ist es also ganz gut, wenn die Philosophie schweigt.
Eine Zahl soll kleiner werden
Was aber, wenn man sich über das Wesen der Krise täuscht? Was, wenn man sich darin irrt, was „bewältigen“ überhaupt heißt? Möglich auch, dass die Frage, wie dieses „wir“ bestimmt wird, dass da die Krise bewältigen soll, spontan falsch beantwortet wird. Was wieder dazu führen kann, dass die Krise am Ende nicht bewältigt wird.
Worin eine Krisenbewältigung in den Augen der Öffentlichkeit bestehen würde, sieht man in den Nachrichten: Dort wird eine Zahl vermeldet, und die muss verkleinert werden. Die Krise besteht offensichtlich überhaupt darin, dass diese Zahl wächst: Im Falle der Corona-Krise ist es die Zahl der gemeldeten infizierten Personen, im Falle der Flüchtlingskrise ist es die Zahl der Flüchtlinge, die ins Land kommen, im Falle der Klimakrise ist es die globale mittlere Temperatur der Atmosphäre in Erdbodennähe.
Die Krise wäre bewältigt, sobald die Zahl, die die Krise kennzeichnet, wieder so klein ist wie vor der Krise – und wenn zudem dafür gesorgt worden ist, dass sie nie wieder wachsen kann, dass man sie nun „im Griff“ hat. Die Klimakrise macht hier eine kleine Ausnahme: die Hoffnung, dass die Zahl, auf deren Wachstum wir mit Angst schauen, in absehbarer Zeit wieder sinkt, hat wohl niemand, wir wären froh – und würden sagen, wir hätten die Krise bewältigt –, wenn sie nicht weiter steigt.
Im Alltag merken wir wenig
Wenn man die Krisen der letzten Jahre betrachtet, fällt auf, dass sich jede in einer solchen Zahl fassen lässt. Deren Zustandekommen ist wissenschaftlich bereits durchschaut und die Wissenschaft hat sogleich auch die nötigen Mittel zur Bewältigung der Krise parat. Gegen die Klimakrise hilft der Ausstieg aus der Kohle- und Ölverbrennung, gegen die Corona-Krise hilft das Tragen von Alltagsmasken, das Händewaschen und der Verzicht auf zu viel Nähe zu anderen Menschen. Wir bewältigen die Krise, indem wir das tun, was getan werden muss, um die Zahl zu verkleinern, die die Krise anzeigt.
Das ist sicherlich richtig, und die Philosophie hat keine Argumente, die das auch nur im Geringsten fragwürdig machen. Was sie kann, ist weiter fragen: Warum ist die Krise sichtbar in einer wissenschaftlichen Zahl, und warum glauben wir, dass die Krise vorbei ist, wenn diese Zahl sinkt?
Das Bemerkenswerte an den heutigen Krisen ist überhaupt, dass wir sie im Alltag zumeist gerade nicht bemerken – wir nehmen sie vor allem durch die Zahl zur Kenntnis, deren gefährliches Wachstum uns die Wissenschaft zeigt und erklärt. Sicherlich: Wir sprechen schon heute bei langer Trockenheit und heißen Sommern von den Folgen des Klimawandels, beim Gletscherschwund und bei sterbenden Wäldern. Aber wir würden diese Ereignisse noch immer als normale Schwankungen und nicht als Teil des menschengemachten Klimawandels erleben, wenn wir die wissenschaftliche Zahl nicht hätten, die uns den heißen Sommer als Klimawandel erleben lässt.
Gestorben wird in der „Tagesschau“
Noch stärker ist dieser Effekt bei der Corona-Krise zu beobachten. Die Krise ist eine Kurve in einem Diagramm oder eine Rotfärbung auf einer Landkarte. Konkrete, reale Schicksale, Menschen, die direkt von der Krise, die durch die Zahl gekennzeichnet ist, betroffen sind, kennen wir zumeist nur aus Medienberichten. Genau besehen zeigt die Tatsache, dass über Einzelschicksale in den Medien detailliert berichtet wird, wie weit die Krise von unserem Alltag entfernt ist. Würden diese Schicksale nämlich tatsächlich Teil unseres Alltagslebens sein, müssten die Medien nicht darüber berichten. Medien berichten das nicht alltägliche Drama, nicht das, was jeder von uns täglich selbst durchmacht.
Die Krise in der modernen Welt ist also die Zunahme einer wissenschaftlich ermittelten Zahl, die von den Forschern zur Maßzahl, zum Indikator der Krise bestimmt wurde. Die Krise wird von den allermeisten von uns durch eine Dominanz von Krisenberichten in den Medien erlebt. Das, was als Krise auf diese Weise ins Bewusstsein gebracht wird, hat mit unserem Alltagsleben oft nichts zu tun. Unser beeindruckendes Vertrauen in Wissenschaft und Medien gibt uns die Sicherheit, dass es diese Krise tatsächlich gibt, dass sie bedrohlich ist und dass sie bewältigt werden muss.
Du musst dein Leben ändern, sagt der Staat
Die Maßnahmen zur Bewältigung der Krise sind es erst, die uns die Krise spürbar machen. Sie kommen zunächst in staatlichen Geboten und Verboten zum Ausdruck, die dann tatsächlich in den Alltag eingreifen. Es ist das Leben mit diesen Vorschriften und den Einschränkungen, die uns daraus entstehen, was wir als reale Krise erleben. Damit wird auch sichtbar, wer „wir“ sind, die die Krise bewältigen müssen: „Wir“ sind die, die ihren Alltag ändern sollen, damit eine Krise bewältigt wird, die in diesem Alltag bisher gar nicht erlebt wurde.
Wenn der Eingriff in unser Leben, der zur Bewältigung der Krise notwendig wird, aber selbst als Krise erlebt wird, dann muss man fragen, was für eine Dynamik entstehen kann, wenn die Bewältigung der Krise nur durch eine Krise möglich ist. Die ökonomische Krise, die durch die Corona-Krise ausgelöst wurde, kann mit Mitteln der Wirtschafts- und Geldpolitik vielleicht noch behoben werden.
Aber die Krise der Kunst- und Kulturwelt? Die Theater und Museen sind wieder geöffnet, aber die Menschen meiden diese Orte, weil sie auf die Krise fixiert sind, die in der Zahl beschrieben wird. Sie halten sich an die Vorschriften, nicht, indem sie im Theater die Maske tragen, sondern indem sie auf den Theaterbesuch verzichten.
Nicht immer alles akzeptieren
Und mit einem Schlag ist die Philosophie, die doch durch Reflexion und Wesensbestimmung gerade Abstand zum Alltag gewinnen wollte (da sie zur Lösung der konkreten Probleme nichts beizutragen vermochte) mittendrin in den Fragen der Gegenwart. Vielleicht besteht das Krisenhafte dieser Gegenwart darin, dass wir die Krisen immer nur in einer einfachen Zahl messen, und dass wir immer wieder hoffen, die Reduktion dieser Zahl wäre eine Krisenbewältigung, obwohl wir schon sehen, und doch übersehen wollen, dass diese Krisenbewältigung im Alltag bereits eine neue, viel tiefere Krise auslöst. Und das ist eine Krise, die sich nur schwer in eine Zahl pressen lässt und die deshalb auch kaum zu bewältigen ist.
Wenn diese Überlegungen als philosophische Reflexion über Krisen angesehen werden können, stellt sich nun die Frage, was die Philosophie als Problemlösung anzubieten hätte. Offensichtlich nichts. Sie führt nicht zu einem Handlungsvorschlag, sie zeigt das Problem nur als noch größer, als es vorher schon erschien. Aber das ist nicht sinnlos, auch wenn es denen, die doch handeln und die Krise bewältigen wollen, als störend erscheinen muss.
Was die Philosophie zeigt, ist, dass man Verständnis haben muss für die, die die Vorschriften und Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht einfach hinnehmen wollen, die zweifeln und skeptisch sind und die das, was als Bewältigung gepriesen wird, auch als Gefahr und als neue Krise sehen. Auf der Basis eines solchen Verstehens ist es möglich, eine Diskussion darüber zu führen, worauf wir verzichten und was wir akzeptieren können, was uns wirklich wichtig ist und was wir an die Stelle dessen setzen können, was wir aufgeben müssen – damit irgendwann weniger Krisen bewältigt werden müssen.