Müssen wir jetzt Aristoteles „canceln“?

Die Debatte über den Rassismus bei Immanuel Kant reißt nicht ab – und gerade gerät ein noch früherer Philosoph in die Kritik. In der „New York Times“ fragt die amerikanische Philosophin Agnes Callard „Should We Cancel Aristotle?”.

Dass Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.) ein Verteidiger der Sklaverei war, ist bekannt, dass er Frauen die Fähigkeit zur selbstständigen Entscheidung abgesprochen hat, wird kaum jemanden überraschen. Sicherlich werden nun, wie schon als Reaktion auf die Kritik an Kant, wieder Stimmen laut, die darauf verweisen, dass der Denker eben Kind seiner Zeit gewesen sei und dass wir doch nicht aus unserer heutigen Perspektive über die Werturteile und Ideale unserer Vorfahren urteilen können.

Das ist aus zwei Gründen falsch: Einerseits gab es eben bereits zu Kants Zeiten Kritik an Rassenzuschreibungen, und schon die Tatsache, dass Aristoteles die Sklaverei verteidigt hat, verweist darauf, dass es Kritiker gab. Auch Aristoteles wird zudem, wie Kant, aktive, selbstbewusste Frauengestalten gekannt haben, die Epen des Homer etwa werden ihm nicht unbekannt gewesen sein, die Rolle der Diotima für den Sokrates bei Platon wird er gekannt haben.

Nicht zu vergessen: Die abendländische Philosophie beginnt geradezu mit der „gewitzten thrakischen Magd“, die sich über Thales lustig macht. Man muss also auch zu Lebzeiten Aristoteles‘ weder Frauenverächter noch Sklaverei-Befürworter gewesen sein.

Dazu kommt, dass die großen Philosophen ja gerade mit dem Anspruch der tieferen Reflexion und des grundsätzlicheren Verständnisses des Wesens der Menschen auftreten – was man anderen als „Kindern ihrer Zeit“ durchgehen lassen kann, sollte man von diesen kritischen, analysierenden Denkern doch gerade nicht erwarten.

Herabwürdigungen

Wichtiger aber ist, auf eine tiefe Verwandtschaft zwischen Aristoteles und Kant aufmerksam zu werden, die ihr herabwürdigendes Urteil über andere, seien es Sklaven, Fremde oder Frauen, womöglich überhaupt verständlich macht und deshalb für uns heute und für einen selbstkritischen Blick, auch die Gründe unseres eigenen Urteilens von Bedeutung ist.

Philosophisches Denken und konkretes Urteilen über die Lebenswirklichkeit stehen bei Kant und Aristoteles nicht unverbunden nebeneinander. Vielmehr hat ihr abwertendes Urteil eine ausdrücklich philosophische Begründung und gehört zu ihrem Denksystem. Die Parallelität in den Argumentationen von Aristoteles und Kant verweist auf die Gefahrenstelle, die ihre Philosophie für die Abwertung anderer anfällig macht.

In Aristoteles‘ „Politik“ finden wir als grundlegende These die Behauptung, dass jedes Werden ein Ziel hat: Die Beschaffenheit eines Dings in dem Moment, in dem es an sein Ziel gekommen ist, ist die eigentliche Natur des Dings. Im Zustand des erreichten Ziels ist das Ding sich selbst genug, und es hat den besten möglichen Zustand erreicht (1252b). Die Natur wirkt nicht blindlings, das Werden ist immer auf die Erreichung des besten Ziels gerichtet. (1253a).

Das Wort physis, das wir heute mit „Natur“ übersetzen, bedeutet selbst „das Gewordene“, das Ziel des Werdens ist also mit dem Gewordenen in seiner Abgeschlossenheit identisch und somit das selbstgenügsame Beste. Diese Überlegungen prägen auch die Nikomachische Ethik, die das Beste als das abgeschlossene Gewordene ansieht. Es gibt also für alles einen optimalen Zustand, der in seinem Wesen schon angelegt ist und auf den es sich mit Notwendigkeit hin entwickelt.

Tiefe Verwandtschaft im Denken

Diese Sätze könnten auch von Kant geschrieben sein. Für ihn ist die Bestimmung der Menschen, ihre Menschheit, der Zweck, der den Menschen von der Natur zugewiesen ist, sowohl die Grundlage der Moralphilosophie als auch wesentliches Element der Begriffsbildung für die Welterkenntnis.

Aristoteles schließt aus seinen Überlegungen zur zwecksetzenden Natur insbesondere, dass die von den Menschen hervorgebrachten gesellschaftlichen Strukturen ebenfalls auf ein Ziel zum selbstgenügsamen Besten hin gestaltet werden.

Diese beste und selbstgenügsame gesellschaftliche Struktur erkennt Aristoteles in der Polis, die er den Naturdingen zurechnet, und der Zweck des Menschen ist, sich politisch, das heißt stadtbildend, zu betätigen – er ist von seiner Natur her politikon zoon („Politik“, 1252b). Dazu ist der Mensch als einziges vernünftiges Wesen bestimmt.

Was für Aristoteles die Polis ist, ist für Kant die Republik. In der oft genannten, aber wohl selten gründlich gelesenen Schrift „Zum ewigen Frieden“ sieht Kant den Zweck der Menschheit bekanntlich in der Ausbildung republikanischer (nicht demokratischer) Strukturen – ein Zweck, von der Natur gesetzt, zu dessen Erreichung übrigens der Krieg ein naturgewolltes Mittel wäre, insbesondere weil sich republikanische Staaten von Nachbarvölkern im Naturzustand nach Kant grundsätzlich zu Recht bedroht fühlen können.

Sowohl Aristoteles als auch Kant sind sich also darin einig, dass es dem Menschen von der Natur als Zweck aufgetragen ist, eine bestimmte politische Organisation zu verwirklichen – diese wird, weil sie von der Natur eben als Zweck gesetzt ist, zugleich als die bestmögliche und erstrebenswerte betrachtet. Das Erreichen dieses Zwecks ist mit Notwendigkeit verbunden.

Das Eigene als Ideal für alle

Problematisch wird diese These vor allem deshalb, weil beide Denker das naturgesetzte Ziel naheliegenderweise in einer Idealisierung dessen finden, was in der eigenen Gemeinschaft bereits entstanden ist und möglich erscheint. Völlig andere gesellschaftliche Strukturen können hingegen nur als Irrweg angesehen werden, sie laufen dem Zweck der Natur zuwider und müssen somit bekämpft werden.

Das gilt ebenso für Menschen und Gesellschaften, die sich dem Streben nach den als notwendig erkannten Zielen nicht anschließen mögen. Fremde Kulturen, die andere Formen des Zusammenlebens etabliert haben, sind zu unterdrücken oder umzuerziehen, ihre mangelnde Einsicht in den erkannten Zweck der Menschheit verweist auf mangelnden Geist – das gilt auch für Kinder, Aussteiger, Frauen oder auch für bestimmte Religionen die, statt die Moral zu befördern, sinnlosen Kulten nachgehen, bei denen sich Menschen etwa Farbe ins Gesicht malen und Tänze aufführen.

Die Konsequenz eines solchen Denkens ist eine Überhöhung der eigenen Ziele und eine Abwehr anderer Lebensentwürfe. Die Durchsetzung der Notwendigkeiten der Natur muss – wo Umerziehung nicht fruchtet – mit Gewalt erfolgen.

Arbeit am Fundament

Eine kritische Reflexion und Distanzierung von den Denkgebäuden dieser Denker ist für uns heute deshalb notwendig, weil die Idealisierung unseres europäischen Lebensmodells bis heute eine grundlegende Denkfigur in der Beurteilung anderer Kulturen geblieben ist.

Die Vorstellung, dass sich jede Gesellschaft auf der Erde auf ein Ideal hin zu entwickeln habe, das in den Grundzügen in der westlichen Demokratie schon angelegt ist, ist uns bis heute nicht fremd. Unsere moralischen und politischen Urteile gründen darauf. Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz können auf dieser Basis immer wieder entstehen.

Zu einer solchen kritischen Neubewertung der westlichen Denktraditionen gelangen wir allerdings nicht, wenn wir uns von den bisher verehrten Geistesriesen und Meisterdenkern abwenden und sie zukünftig ignorieren. Im Gegenteil, nur durch intensive Zuwendung werden wir verstehen, welche Folgen ihr Denken für unsere Gegenwart hat.

Aristoteles und Kant haben einen großen Teil des Fundamentes unserer Denktradition geschaffen. Die Fehler am Bau beseitigt man nicht, indem man das Fundament herausschlägt, sondern indem man analysiert, welche Probleme es uns beschert. Davon ausgehend, können zusätzliche Träger gegründet werden.

Für das Studium von Kant und Aristoteles bedeutet das, ihre Moralphilosophie, ihre politische Philosophie und ihre Erkenntnistheorie gründlich zu durchdenken – nicht als ewige geniale Einsichten, sondern als große, problematische Entwürfe. Das ist schwieriger als das bloße Erlernen von Hauptsätzen – aber es lohnt sich, gerade mit Blick auf eine immer globalere Denkwelt, die auf mehr gegründet ist als auf abendländische Philosophietraditionen.

Zuerst veröffentlicht auf welt.de am 26.08.2020