Die deutsche akademische Philosophie ist im Aufruhr. Es ist vielleicht schon ein Symbol des Problems, welches die Professorinnen und Privatdozenten unter den Freunden der Weisheit umtreibt, dass kaum jemand etwas davon mitbekommt. Dennoch geht es uns alle etwas an, und deshalb muss hier darüber geschrieben werden.
Es geht um eine Anmaßung, es geht darum, dass Svenja Flaßpöhler eine Philosophin genannt wird und Richard David Precht gar als Philosoph bezeichnet wird im Fernsehen, in den Talkshows und im Feuilleton, wobei letzteres immerhin fast einstimmig Kritik übt an dem, was die beiden in letzter Zeit gesagt haben, und dabei auch gelegentlich anklingen lässt, was die akademische Philosophie umtreibt, nämlich dass doch wenigstens der Precht gar kein Philosoph sei.
Was viele akademische Philosophen derzeit aber in Aufruhr versetzt ist, dass nicht sie, die Experten, von den Medien zu grundsätzlichen Fragen interviewt werden, sondern dass Precht und Flaßpöhler, die gar keine Lehrstühle an Universitäten innehaben oder sonst irgendwie als Vertreter der akademischen Philosophie zertifiziert sind, im Fernsehen sprechen dürfen.
Nun ist es ja nicht so, dass Philosophen, die Lehrstühle an Universitäten haben oder an Hochschulen lehren, in der Öffentlichkeit gar nicht zu den aktuellen Fragen der Gesellschaft zu Worte kämen. Markus Gabriel, Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Moderne und Gegenwart, schreibt regelmäßig für diese Zeitung, Olivia Mitscherlich-Schönherr, Dozentin für philosophische Anthropologie an der Hochschule für Philosophie in München, hat in den letzten zwei Jahren in fast allen überregionalen Tageszeitungen Essays zur Corona-Krise veröffentlicht. Warum also beklagt etwa die Tübinger Philosophie-Professorin Sabine Döring auf Twitter, dass nicht die Philosophen in die Medien eingeladen werden, die „wirklich zu den Themen forschen“, warum ist Adriano Manino vom Lehrstuhl für Philosophie und politische Theorie der Universität München irritiert, dass „Dampfplauderer“ in den Talkshows sitzen, wo es doch zu all diesen Themen auch Philosophen gäbe, die „hauptberuflich dazu forschen“ die aber „kaum angefragt werden“?
Das Große Ganze oder die Kleinteiligkeit
Um das zu verstehen, muss man sich den Weg ansehen, den die westliche akademische Philosophie in den letzten 100 Jahren gegangen ist. Vereinfacht sagt man, dass sich im 20. Jahrhundert zwei große Philosophie-Traditionen herausgebildet haben: Die kontinentale Philosophie und die analytische. Dass die Begriffe hier nicht so recht zueinanderpassen, muss nicht irritieren, man könnte die kontinentale Tradition auch als „phänomenologisch-hermeneutische“ bezeichnen, oder die analytische als angelsächsische. Auf die Gefahr hin, sogleich von Vertretern beider Seiten der Verzerrung oder zu engen Beschreibung dessen bezichtigt zu werden, was diese beiden Traditionen auszeichnet, kann man vielleicht trotzdem soviel sagen: eine kontinentale Philosophin hat, auch wenn sie sich einer Einzelfrage widmet, immer das „große Ganze“, die grundlegenden Fragen nach der Stellung des Menschen, dem Sinn des Lebens und den letzten Ursachen im Sinn, sie scheut sich nicht, große Fragen spekulativ zu beantworten und grundsätzliche Thesen zu vertreten. Der analytische Philosoph definiert sich umgrenzte Fragestellungen, die er dann, unter genauer Angabe von Voraussetzungen und Annahmen, möglichst klar und sicher zu beantworten versucht. Genauer: er befindet sich dabei innerhalb einer Forschungscommunity, er leistet Beträge zu Forschungsprogrammen – kurz, die analytische Philosophie versteht sich als Wissenschaft im ganz modernen Sinn.
Selbstverständlich lässt sich nicht jeder philosophische Kopf und nicht jedes philosophische Werk der letzten 100 Jahre eindeutig und klar einer der beiden Strömungen zuordnen, weder Ludwig Wittgenstein noch Hannah Arendt oder Theodor W. Adorno, um drei ganz große Namen aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen, passen genau in eine der beiden Kategorien. Darauf kommt es aus der heutigen Perspektive auch gar nicht an, und schon gar nicht, wenn man sich fragt, warum ein großer Teil der akademischen Philosophengemeinschaft gegenwärtig meint, nicht genug im gesellschaftlichen Diskurs gehört zu werden und sich fragt, warum man vermeintlichen „Dampfplauderern“ mehr Gehör schenkt als ihnen.
An den Universitäten ist der Kampf entschieden
An den deutschen Universitäten jedenfalls hat sich die analytische Tradition so sehr durchgesetzt, dass sie inzwischen mit großzügig umarmender Geste den Wettstreit zwischen ihr und den Kontinentalen für beendet erklärt hat und meint, auf dem breiten Fundament der gesamten Philosophietradition zu stehen. Ob das der Fall ist? Man frage einen frisch gebackenen Philosophie-Master einer beliebigen deutschen Universität, wie viel Husserl oder gar Heidegger er gelesen habe, von Derrida oder Levinas zu schweigen, man erkundige sich, ob eher Quine, Davidson, Putnam und Tarski in seiner Masterarbeit zitiert worden sind. Von Ausnahmen abgesehen, dürften englischsprachige Autoren der analytischen Schule weit häufiger genannt werden als Phänomenologen aus Deutschland oder Frankreich.
Der Jargon der Aufsätze, oder sollte man besser sagen, der „paper“, die in der analytischen Philosophietradition entstehen, klingt dann zumeist so: „Der Universalien-Realist behauptet, dass neben Einzeldingen auch noch allgemeine Entitäten, die Universalien, existieren. Der Nominalist oder Universalien-Anti-Realist bestreitet dies und behauptet, dass es nur Einzeldinge gibt. Damit ist der Universalien-Anti-Realist aber in Zugzwang“ (aus: Meinhard Kuhlmann: „Wissenschaftlicher und Universalienrealismus“ in Halbig / Suhm: „Was ist wirklich?“ Seite 237). Man kann ein beliebiges Werk der analytischen Tradition aufschlagen, man wird immer wieder auf solche Sätze stoßen. Das Problem dieser Sätze ist nicht, dass man sie nicht auf Anhieb versteht, das Problem ist, dass die Autoren vermutlich stolz darauf sind, mit der Beschreibung solcher Rollenspiele von angeblichen Standpunkten eine Distanz zu ihrem Gegenstand, zu ihrer Frage herzustellen. Hier wird nicht dazu Stellung genommen, was existiert, was es wirklich gibt, hier wird akademisch darum gefeilscht, was man von welchem Standpunkt aus „verteidigen kann“, wofür man, wenn man dies oder das vertreten würde, „argumentieren könnte“ oder was man dann nicht „vertreten kann“.
Wie anders klingen dagegen die Werke von Autoren, die außerhalb dieser vorherrschenden Methodik liegen. Schlägt man etwa ein Buch von Hannah Arendt auf, sagen wir, die dritte Vorlesung „Über das Böse“, dann liest man da „In der Moral geht es um das Individuum in seiner Einzigartigkeit. Das Kriterium von Recht und Unrecht, die Antwort auf die Frage: Was soll ich tun? hängt in letzter Instanz weder von Gewohnheiten und Sitten ab, die ich mit Anderen um mich lebenden teile, noch von einem Befehl göttlichen oder menschlichen Ursprungs, sondern davon, was ich in Hinblick auf mich selbst entscheide.“ Auch hier ist nicht entscheidend, ob man diese Aussage sofort versteht, aber man spürt: hier geht es ums Ganze, ums Mensch-Sein, hier ist jede einzelne Person gemeint und jeder Satz betrifft die Sprecherin selbst genauso, wie ihre Zuhörer.
Forscher oder Denker
Die Philosophen dieser Tradition sind keine Forscher, keine Wissenschaftler, die irgendein Detailproblem auf ihren gedanklichen Labortisch legen und sezieren, sie sind Denker, Nachdenker, Tiefer-Denker, die immer, auch in den Detailfragen, ums Ganze des Menschseins, um unsere Stellung in der Welt, um die Bedingungen und Auswirkungen des Menschseins ringen.
Wenn nun die Laien, die Nicht-Philosophen, sich mit ihren aktuellen, konkreten Fragen in der Krise an die Philosophie wenden und um Auskunft bitten, dann zögern allerdings sowohl die Analytischen als auch die Kontinentalen Philosophen. Auf den ersten Blick findet man sowohl bei den einen als auch bei den anderen die Auskunft, die Philosophie könne zu den aktuellen konkreten Fragen der Gesellschaft nichts sagen. Die Eule der Minerva beginne ihren Flug in der Dämmerung, sagte schon Hegel. Adorno und Heidegger gaben in ihren Spiegel-Interviews Ende der 1960er ganz ähnliches zu Protokoll. Und in einem aktuellen Sammelband mit Beiträgen analytischer Philosophen unter dem Titel „Nachdenken über Corona“ heißt es: „Der hohe Anspruch an die Philosophie, ihre Zeit – die Corona-Zeit – in Gedanken zu fassen, ist kaum seriös einzulösen.“
Und dennoch: Am ehesten finden diejenigen noch Worte, die in ihren Werken nicht um herauspräparierte Standpunkte idealisierter Thesen zu Detailproblemen diskutieren, sondern die, die immer, auch wenn sie ein Detail in den Blick nehmen, mit dem Ganzen ringen – gerade wenn sie und weil sie eben auch diese eigene Sprachlosigkeit zum drängenden Problem machen können, wie es Olivia Mitscherlich-Schönherr in ihren Schlussbemerkungen bei der Konferenz der Rudolf-Augstein-Stiftung tat, als sie feststellte „Wir müssen mal stottern. In der Krise merken wir, wie wenig wir wissen.“ Und „Wir (die Philosophie) müssen uns hinstellen und sagen, wir wissen auch nicht. Aber die (die Wissenschaftler) wissen vielleicht auch nicht.“
Die Bedrängnis als Thema
Es kommt gar nicht darauf an, dass die Philosophie in der Krise Forschungsergebnisse beisteuert, die sie während ihrer Detailuntersuchungen zu Spezialproblemen der Erkenntnistheorie oder der Deontologischen Ethik gewonnen haben mag. Diese Erkenntnisse können nicht in der gleichen Weise hilfreich sein wie die Laboruntersuchungen der Virologen und die Experimente der Aerosolforscher, wie die Modellberechnungen der Klimatologen und die empirischen Resultate der Soziologen. In der Krise sind Philosophen bedrängte, verunsicherte Menschen wie alle anderen – sie haben diesen allenfalls voraus, dass sie auch in fröhlichen Zeiten schon viel, intensiv und schonungslos über die menschliche Natur, die Begrenztheit unseres Denkens, Wissens und Vermögens, über unsere Sterblichkeit und Ängstlichkeit, über Hoffnung und Optimismus nachgedacht haben – und dass sie aus diesem jahrzehntelangen Nachdenken und aus dem Wissen über ein jahrtausendealtes Ringen mit diesen Fragen einige Fragen grundsätzlicher stellen, einige Gefahren eher sehen und einige Konsequenzen unseres Tuns genauer formulieren können. Nun ist aber die akademische Philosophie in Deutschland – wie gesagt – eher von denen dominiert, die sich theoretischen Spezialproblemen widmen und darüber Fachdiskussionen führen. Von diesen Spezialisten können wir sicherlich detaillierte Analysen zu eben solchen Spezial- und Detailproblemen erwarten. Die Menschen mit ihren Sorgen suchen aber nach Denkern, die ihre Sorgen teilen und diese aus einem jahrzehntelangen Bemühen heraus schon etwas weiter durchdacht haben – das ist die Hoffnung, die Medien und Öffentlichkeit damit verbinden, dass sie sich auf die Suche nach Philosophen als Gesprächspartner machen. Sie finden nur wenige in den Mauern der Akademien und philosophischen Seminare der Universitäten – aber sie finden einige außerhalb dieses Bezirkes. Wenn die akademische Philosophie die Äußerungen dieser Menschen für nicht philosophisch oder akademisch genug hält, muss sie sich fragen, ob sie selbst überhaupt in der Lage ist, den Menschen in ihrer existenziellen Not etwas hilfreicheres zu bieten.